Es muss richtig wehtun
Opfer von Behandlungsfehlern bekommen vor Gericht immer höhere Schmerzensgelder, zuletzt wurde sogar die Marke von einer Million Euro geknackt. Und nun könnte der Bundesgerichtshof die Höchstsummen sogar zum neuen Standard erklären.
Ein Stück Apfel wurde dem einjährigen Jungen zum Verhängnis. Wegen eines Infekts war er in der Klinik in Limburg-Weilburg und sollte von einer Krankenschwester ein Antibiotikum über einen Portzugang bekommen. Doch der Junge regte sich auf, weinte und schrie so sehr, dass er sich an dem Apfelstück verschluckte, das er kurz zuvor gegessen hatte. Eine Ärztin eilte herbei, versuchte sich an der Rettung, vergeblich: Der Junge bekam lange keine Luft mehr, sein Gehirn dadurch nicht mehr genug Sauerstoff, sodass er schweren Schaden nahm. Das Kind kann heute weder laufen noch sprechen, hat Epilepsie und Angstzustände. Es braucht rund um die Uhr Betreuung, führten die Richter vom Landgericht Limburg aus. Schuld daran: Schwester und Ärztin. Die Rettungsmaßnahmen der Ärztin seien „fehlerhaft und in der durchgeführten Form sogar schädlich“, befanden die Richter. Eine Million Euro Schmerzensgeld sprachen sie dem Jungen zu. „Das Urteil ist spektakulär, so ein hohes Schmerzensgeld gab es in Deutschland noch nie“, sagt Frederick Iwans, Vorstand des Prozessfinanzierers Foris, der häufig Kläger bei Haftungsprozessen gegen Kliniken, Ärzte, Hebammen oder Krankenpfleger vertritt. „Die verhältnismäßig niedrigen Schmerzensgelder in Deutschland werden von den Wissenschaftlern schon länger in Zweifel gezogen“, sagt Cornelius Thora, Medizinrechtler bei der Kanzlei BLD Bach Langheid Dallmayr. Bestes Beispiel: Die Witwe eines Opfers des Bottroper Apothekers, der Krebsmittel gepanscht hatte, bekam gerade einmal 10 000 Euro Schmerzensgeld vom Landgericht Essen zugebilligt. „Jetzt zeigt sich eine aktuelle Tendenz zu höheren Summen“, betont Thora. Etwa am Landgericht Gießen: Im Dezember 2019 sprachen die Richter einem 23-jährigen Mann 800 000 Euro nach einer schweren Hirnschädigung im Uniklinikum Gießen-Marburg zu. Eigentlich war es eine Routineoperation eines gebrochenen Nasenbeins, doch das Klinikpersonal hatte die Schläuche des Beatmungsgeräts falsch angeschlossen: Unter Vollnarkose bekam der damals 17-Jährige 25 Minuten lang zu wenig Sauerstoff. Der Patient sei jung und werde nie mehr ein selbstbestimmtes Leben führen können, begründeten die Richter die hohe Summe. Je jünger, umso höher das Schmerzensgeld Alle zehn Jahre verdoppelten die deutschen Gerichte zuletzt die Obergrenze für Schmerzensgeldzahlungen, resümiert Iwans. „Lag die Schallmauer im Jahre 2000 noch bei 270 000 Euro, so erreichte sie 2010 schon 500 000 und nun erstmals die Millionengrenze.“ Bis zu den in den USA üblichen Summen ist es zwar noch weit. Allerdings umfassen die dortigen Millionensummen neben Schmerzensgeld auch Schadensersatz und eine Strafzahlung. Im Schadensersatz sind etwa Zahlungen für Betreuung und Pflege, Behandlungen und Kosten für behindertengerechte Hausumbauten enthalten. Ein guter Teil der Zahlung ist zudem eine reine Strafzahlung, die gar nicht bei den Opfern, sondern bei wohltätigen Organisationen ankommt. Im Bundesstaat Oregon sind es 60 Prozent der Urteilssumme, in Alaska 50 Prozent. Die hohen Summen sollen vor allem als Abschreckung für andere dienen. In Deutschland zeichnet sich ab, dass die Schmerzensgeldsummen sich neben der Schwere eines Behandlungsfehlers statt an Pauschalen zunehmend auch am Alter des Betroffenen orientieren. Die sogenannte taggenaue Berechnung, wie sie 2018 erstmals die Richter am Oberlandesgericht Frankfurt im Fall eines Motorradfahrers nach einem Unfall anstellten, geht davon aus, dass bei längerer verbleibender Lebenszeit mehr Schmerzen auszugleichen sind. „Dann kann es erhebliche Schmerzensgelder auch für weniger tragische Schäden geben“, skizziert Thora. Diese Berechnungsmethode könne dazu führen, „dass ein jüngerer Verletzter 400 000 Euro statt bisher 50 000 Euro erhält“, rechnet Thora vor. Eines der neu berechneten Urteile ist rechtskräftig, das andere liegt beim Bundesgerichtshof und könnte Anlass für einen Paradigmenwechsel werden. Falls sich die BGH-Richter der neuen Berechnungsmethode anschließen, dürften die Schmerzensgeldsummen auch in anderen Fällen steigen.