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Hamburger Abendblatt, Junge nach Behandlung an UKE schwerstbehindert

Junge nach Behandlung an UKE schwerstbehindert

Was geschah im Dezember 2008 auf der Kinderintensivstation der Uniklinik?

Hamburger Abendblatt,
Junge nach Behandlung an UKE schwerstbehindert,
03.03.2015

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Die Eltern des achtjährigen Julian haben Klage eingereicht. Hamburg/Ellerhoop.  Nicole Klingberg, 46, hat lange gebraucht, bis sie sich die alten Bilder aus dem Jahr 2008 von ihrem kleinen Sohn wieder anschauen konnte. Julian beim Spielen im Kinderzimmer. Julian beim Toben am Strand. Julian mit Anorak, Pudelmütze, Schal und Schnuller im Flur. Der Zweijährige mit den vollen schwarzen Haaren war ein ziemlicher Wirbelwind. „Er rannte wie eine Hummel“, sagt sein Vater Andre Klingberg, 44. „Es hat eine Zeit lang so weh getan, das Fotoalbum aufzuschlagen“, sagt Nicole. Die Erinnerung an ihren gesunden Sohn, der laut Arztbericht mit sechs Monaten frei sitzen konnte und eine etwas verzögerte Sprachentwicklung hatte, hat sie zerrissen. Sechs Jahre später sitzt Julian festgebunden in einem Rollstuhl. Der Achtjährige kann nicht mehr gehen und nicht mehr laufen. Er kann nicht mehr sprechen, nicht alleine essen, nicht alleine die Toilette benutzen. Er lächelt den Besucher an, will dauernd beschäftigt werden und schmeißt Dinge, die er in die Hände bekommt, nach kurzer Betrachtung durch das Wohnzimmer. Julian hat eine schwere Hirnschädigung. Er wird Zeit seines Lebens auf fremde Hilfe angewiesen sein. Ein Gericht wird klären müssen, ob die irreparablen Hirnschäden des Jungen die Folge einer ärztlichen Fehlbehandlung im Universitätskrankenhaus Eppendorf (UKE) sind. Es ist Mittwoch, der 10. Dezember 2008, als Julian am Nachmittag zu Hause einen Fieberkrampf erleidet. Julian hatte zuvor schon öfters Fieberanfälle und Infekte der oberen Luftwege. Die Eltern rufen den Notarzt, der veranlasst eine sofortige Einweisung des Zweijährigen ins UKE. „Die erste Diagnose: Verdacht auf Pseudokrupp“, sagen die Eltern. Tags darauf verschlechtert sich der Zustand des Jungen, er kommt auf die Kinderintensivstation. Diagnose: schwere Lungenentzündung. Julian bekommt Antibiotika, wird ins künstliche Koma gelegt und an eine Beatmungsmaschine angeschlossen.

Julian übersteht die kritische Situation und kommt nach der Entlassung aus dem UKE im Februar 2009 in die Helios Klinik in Geesthacht, ein neurologisches Rehabilitationszentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Dort wird eine schwere Hirnschädigung diagnostiziert. Zwei Ärzte aus der Helios Klinik, sagt Andre Klingberg, hätten ihm daraufhin geraten, sich zu überlegen, die Haftpflichtversicherung des UKE in Anspruch zu nehmen. Zu dem Zeitpunkt war Julian in seinem Verhalten zwar immer noch anders als vor dem Aufenthalt im UKE, er konnte noch nicht gehen und sprach auch nicht – aber die Eltern dachten, das läge an den vielen Medikamenten und daran, dass der Zweijährige so lange im künstlichen Koma gelegen hat. „In dem Moment aber, als die Ärzte in Geesthacht mich über die Hirnschädigung informiert haben“, sagt Andre Klingberg, „habe ich das erste Mal gedacht, ob auf der Kinderintensivstation im UKE bei der Behandlung vielleicht etwas völlig falsch gelaufen ist.“

Er nimmt sich einen Fachanwalt für Medizinrecht. Der Kölner Boris Meinecke, der in den vergangenen 26 Jahren bundesweit rund 8000 Arzthaftungsmandate bearbeitet hat, sagt: „Es handelt sich um eine tragische Geschichte. Irgendetwas ist mit Julian im UKE passiert.“ Aber die Informationspolitik der Uniklinik, so Meinecke, sei „eine Politik des Mauerns“. Das Krankenhaus habe sich „gedreht und gewendet“, wenn er Akten und Dokumente angefordert hat, um Licht in das Dunkel zu bringen. „Es war wie das Laufen gegen eine Gummiwand.“ Seine beiden Gutachter, renommierte Klinikdirektoren aus Deutschland, monieren in ihren insgesamt fünf Stellungnahmen zu dem Fall ebenfalls „grobe Dokumentationslücken“. Es fehlen „praktisch alle ärztlichen Befunde“ und „tägliche Protokolle zur Beatmungstherapie“. Und die beiden Gutachter finden heraus, dass es „am Nachmittag des 26. Dezember 2008 zu einem schwerwiegenden Zwischenfall“ mit Julian gekommen ist. Sein „Blutdruck fiel stark ab und war längere Zeit nicht messbar.“ Und die „Sauerstoffsättigung hatte für rund 90 Minuten nur Werte zwischen 49 und 55 Prozent“. Dies führte „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einem Hirnschaden“, heißt es im Gutachten.

Über die Ursache für die 90minütige Sauerstoffunterversorgung „können nur Spekulationen geäußert werden, da diese überhaupt nicht dokumentiert wurden“. Warum funktionierte die maschinelle Beatmung nicht? Welche Ärzte wurden wann tätig und haben was unternommen? Diese entscheidenden Fragen müssen nun vor Gericht geklärt werden. „Fest steht, dass es bei Julian infolge mangelhafter pflegerischer und ärztlicher Versorgung zu einer Schwerstschädigung kam, dokumentiert durch eine längere Zeit der Sauerstoffunterversorgung“, sagt Boris Meinecke. „Weil die Dokumentation nicht einmal ansatzweise der gesetzlich geforderten Dokumentationspflicht entspricht, gehen diese Dokumentationsversäumnisse zu Lasten des UKE.“

Im Sommer 2014 haben die Eltern eine Schadenersatzklage eingereicht, nachdem eine außergerichtliche Einigung mit dem UKE nicht zustande gekommen ist. Sie verlangen 600.000 Euro Schmerzensgeld. Und sie klagen darüber hinaus auf einen sogenannten Feststellungstitel, um Julians Zukunft abzusichern. „Was wird aus Julian, wenn wir nicht mehr da sind?“, sagen die Eltern. „Das Gericht soll feststellen, dass alle vergangenen und künftigen Schäden erstattet werden müssen“, sagt Boris Meinecke. Dabei gehe es um Pflegehilfe, Haushaltshilfe, Verdienstausfall oder eine behindertengerechte Umgebung. „Diese Forderungen gehen in die Millionen, deswegen ist der Widerstand auch so groß“, sagt Meinecke.

„Wir dürfen uns in einem laufenden Verfahren nicht im Detail öffentlich äußern“, sagt UKE-Pressesprecherin Christine Trowitzsch. „Sagen kann ich, dass es viele Gespräche mit der Familie zu allen angesprochenen Fragen gab, und dass es eine gute Dokumentation gibt, mit der wir die medizinischen Zusammenhänge alle darlegen können.“

Julian geht heute auf die Raboisenschule in Elmshorn, ein Zentrum für Schüler mit dem Förderbedarf „Geistige Entwicklung“. „Dort wird jedes Kind nach seinen Möglichkeiten unterrichtet“, sagt Nicole Klingberg. Fünfmal in der Woche fährt sie mit Julian ins Therapiezentrum nach Blankenese – zur Krankengymnastik, zur Logopädie und zur Ergotherapie. Seit mehr als fünf Jahren kämpfen Nicole und Andre Klingberg darum, ihrem Sohn zu seinem Recht zu verhelfen. „Es geht uns um Gerechtigkeit“, sagt Andre Klingberg. „Im UKE sind Fehler gemacht worden. Das ist menschlich. Aber das Mindeste ist, dass die Menschen zu ihren Fehlern stehen.“