Schmerzhaft für alle
Kostendruck und Personalmangel steigern die Zahl der Behandlungsfehler. Und der mündige Patient scheut keinen Konflikt. Deshalb sind gute Medizinrechtsanwälte gefragt wie selten.
Franzosen haben also mehr Rechte als Deutsche. Zumindest gilt das für die 20 000 Französinnen, die vom Gericht in einer Sammelklage gegen die Allianz France als Haftpflichtversicherer 60 Millionen Euro zugesprochen bekamen. Sie alle hatten Silikonkissen des Herstellers PIP implantiert be – kommen, die statt teuren medizinischen Füllmaterials billigen Industriekleber enthielten – ebenso wie 5000 deutsche Patientinnen, die aber wohl leer ausgehen. Die erste Abfuhr holten sich die deutschen Frauen vor drei Jahren vor dem Bundesgerichtshof, wo ihre Klage gegen den TÜV Rheinland scheiterte. Der habe, so die Richter, seine Prüfpflichten bei seinen Kontrollen der Produktion der Silikonkissen nicht verletzt. Überraschungsbesuche und Stichproben der Produkte hätten die Prüfer nicht vornehmen müssen. Diese Position stärken nun auch die Generalanwälte des Europäischen Gerichtshofs: Wenn französische Versicherer ihre Patienten im Inland besser schützen wollen als die in Deutschland, dann sei das keine verbotene Diskriminierung, so argumentieren sie. Die Aussichten der Klage einer Frau aus Rheinland-Pfalz, die den TÜV Rheinland verklagt hatte, sinken damit gegen null. Klagen gegen Medizinproduktehersteller sind in Deutschland besonders langwierig und mühsam. Sie dauern regelmäßig mehrere Jahre, manchmal erleben die Kläger das Ende nicht mehr. Medizinrechtsanwalt Bernd Schwarze von der Kanzlei Bach Langhard Dallmayr aus Köln erzählt von seinem längsten Fall, der 13 Jahre in zwei Instanzen dauerte. „Am Ende waren alle Beteiligten so entnervt, dass sie einem Vergleich zustimmten.“ Das freut die Versicherer, die keine Präzedenzfälle schaffen wollen. Die Richter sparen die Zeit für das Verfassen eines Urteils. Übrig bleiben die Patienten, die sich fragen, ob sich all der Aufwand überhaupt lohnt. Zumindest eines gilt unbeschränkt: Wenn es ihnen gelingt, in Musterprozessen gegen Versicherer zu gewinnen, dann helfen sie damit allen anderen Betroffenen, die deutlich leichter an Geld kommen. Trotz solcher Hürden ist die Klagefreudigkeit von Patienten insgesamt gestiegen. Das liege an einer veränderten Grundhaltung vieler Menschen, vermutet Anwalt Schwarze: Die Patienten seien mündiger geworden, die Anspruchshaltung an die Medizin gewachsen. Bei manchen Klagen kommen persönliche Schuldgefühle hinzu. „Zum Beispiel wenn in tragischen Fällen Kleinkinder zu Tode kommen und Eltern sich Vorwürfe machen, nicht rechtzeitig ärztliche Hilfe gesucht zu haben“, erzählt Schwarze. Experten gehen davon aus, dass die Zahl der Streitigkeiten zunehmen wird. „Der Pflegenotstand und die entsprechenden Engpässe sorgen sicher bald für weitere Klagen gegen Kliniken“, erwartet Schwarze. Über die Dauer solch eines Prozesses, so der Anwalt, dürfe man sich jedoch keinen Illusionen hingeben. Selbst Standardfälle zögen sich über vier bis fünf Jahre. Typischerweise gibt jede Partei zwei Sachverständigengutachten in Auftrag, anschließend stellt der Richter Nachfragen, die Gutachter liefern Ergänzungsgutachten, und dann gibt der Richter noch ein weiteres in Auftrag. „Meistens geht es in erster Linie um die schriftliche Dokumentation von Ärzten und Kliniken und die Sachverständigengutachten“, sagt Schwarze. Bei Behandlungsfehlern entscheidet oft die Dokumentation über Sieg oder Niederlage. Teils mit bizarren Folgen: „Wer in der Notfallaufnahme vor Schmerzen schreit, unterschreibt natürlich das Formular, das die Klinik von der Haftung befreit“, sagt Hanns-Ferdinand Müller, Vorstand beim Prozessfinanzierer Foris. Tragische Einzelfälle Um Produktmängel geht es im Fall von etwa 800 Patienten, denen zwischen 2004 und 2009 ein künstliches Hüftgelenk des Schweizer Herstellers Zimmer eingesetzt wurde. Bei vielen der Hüftköpfe kam es zu gesundheitsschädlichem Metallabrieb. Im Blut der Patienten war Chrom, Kobalt und Molybdän nachweisbar, eine zweite Operation unvermeidbar. Allein in Freiburg verklagten mehr als 100 der betroffenen Patienten den Prothesenhersteller. Einer von ihnen bekam in erster Instanz recht. Doch ein Musterurteil ist das noch nicht: Der Hersteller zog in die zweite Instanz – Ende offen. Je größer der Zeitdruck und der Personalmangel in Krankenhäusern, desto öfter passieren Fehler, die Patienten schädigen und dann vor Gericht landen. So erging es etwa einem 71-Jährigen, selbstständig, mit Knieschmerzen. Dem gab sein Arzt in Hamburg am Tag vor seinem Spanienurlaub eine Kortisonspritze, die schnell helfen sollte. Nur: Der Arzt trug keine Handschuhe, erzählt Schwarze. Ein Kniegelenks empyem, eine eitrige Infektion, war die Folge. Den fehlenden Handschuh wertet der Sachverständige als groben Behandlungsfehler. Der Patient kann heute nur noch im Sitzen arbeiten und findet keinen Arzt, der ihm nach all den Komplikationen noch ein künstliches Kniegelenk einsetzen will. In solchen Fällen wird den Patienten die Klage neuerdings leichter gemacht. Der Bundesgerichtshof verpflichtete im vergangenen Jahr Ärzte und Klinken dazu, dass sie in den Prozessen Beweise liefern müssen über Hygienepläne, Hygienebeauftragte, regelmäßige Personalschulungen – und diese nicht nur im Organigramm eintragen. Anwalt Schwarze zweifelt dennoch daran, dass solche Regeln viel verändern: „Ob sich ein Arzt zum Beispiel laufend die Hände wäscht oder nicht, das wird vor Gericht letztlich eine Blackbox bleiben.“