Urteil Landgericht Limburg: 1 Mio. Euro für schwer medizingeschädigten Jungen
(Landgericht Limburg an der Lahn, Aktenzeichen – 1 O 45/15 -).
Landgericht Limburg a. d. Lahn Verkündet lt. Protokoll am: 28.06,2021
Aktenzeichen:
1045/15
Im Namen des Volkes
Urteil
Jn dem Rechtsstreit
-Kläger
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte Meinecke u. Koll., Rlehler Str. 28, 50668 Köln
gegen
1.
2.
3.
4.
-Beklagte-
Prozessbevollmächtlgte zu 1.:
Prozessbevollmächtigter zu 2.:
Unterbevollmär.htintA211 2 •
Prozessbevollmächtigter zu 3.:
Prozessbevallmächtigte zu 4.:
hat das Landgericht Limburg a. d. Lahn -1. Zivilkammer -durch den Vorsitzenden Richter
am Landgericht Klamp, den Richter am Landgericht Arz und die Richterin am Landgericht Dr.
Thomsch auf die mündliche Verhandlung vom 29.03.2021 für Recht erkannt:
1. Die Beklagten zu 1), 2) und 4) werden gesamtschuldnerisch verurteilt, an
den Kläger 1.000.000,00 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu zahlen, die Beklagten
zu 1) und 2) seit dem 10.07.2015, die Beklagte zu 4) seit dem 23.07.2015.
2. Es wird festgestellt. dass die Beklagten zu 1), 2) und 4) als
Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger sämtliche künftigen
unvorhersehbaren immaterlellen sowie alle vergangenen und künftigen
materiellen Schäden, die Ihm infolge der fehlerhaften Behandlung vom 26.
Dezember 2011 entstanden sind bzv.,. noch entstehen werden, zu ersetzen,
soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige
Dritte übergegangen sind bzw. übergehen werden.
3. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
4, Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten zu 1), 2) und 4)
gesamtschuldnerisch ¾. Das restliche ¼ trägt der K!äger. Der Kläger trägt
die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 3).
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von
11 O % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand:
Der am 22.10.2010 geborene Kläger macht Schadensersatzansprüche aus einer behaupteten
fehlerhaften ärztlichen bzw. pflegerischen Versorgung geltend. Die Beklagten zu 3) und 4)
sind zwei von fünf Belegärzten im Haus der Beklagten zu 1 ), die wechselweise meist eine
Wodle belegärzt!ich selbsttätig arbeiten. Die Beklagten zu 3) und 4) haben jeweils eigene
Belegarztverträge mit der Beklagten zu 1) geschlossen, für deren Inhalt auf die Anlagen zum
Schriftsatz der Beklagten zu 1) vom 04.12.2020 (BI. 1108 ff. d. A) Bezug genommen wird.
Ausweislich § 2 Absatz 3 dieser Verträge haben die Belegärzte der Abteilung im
Einvernehmen mit dem Krankenhausträger über die Zusammenarbeit eine schriftliche
Vereinbarung zu schließen, in der u.a. die Aufgabenverteilung, die gegenseitige Konsultation,
die gemeinschaftliche Nutzung von Räumen und Einrichtungen und die Regelung der
Sicherstellung der durchgehenden ärztlichen Versorgung und der Vertretung in Abwesenheit
zu regeln sind, Kommt, so § 2 Absatz 4 der Verträge, eine solche Vereinbarung nicht
innerhalb von drei Monaten zustande, so kann der Krankenhausträger nach Anhörung eine
Belegarztordnung erlassen und die genannten Regelungen treffen. Beides ist jedoch nicht der
Fall.
Ausweislich § 13 Absatz 4 der Verträge sind die Belegärzte in ihrem Arbeitsbereich
gegenüber dem vom Krankenhausträger zur Verfügung gestellten Personal unter Beachtung
der Arbeitsverträge und der fachlichen Kompetenz der angewiesenen Personen fachlich
weisungsbefugt. Die Pflegekräfte sind Angestellte der Beklagten zu 1 ), die den Belegärzten
zur Verfügung gestellt werden. Sie sind mit der intravenösen Verabreichung von
Medikamenten sowie der Überwachung von Verweilkanülen betraut. Die Technik der
intravenösen Injektion sowie dle nach einem Aspirationsereignis zu treffenden Notfall~ und
Sofortmaßnahmen sind Voraussetzung für den Einsatz in einer entsprechenden Abteilung und
Gegenstand der Ausbildung der Krankenpflege. Die Intravenöse Verabreichung von
Medikamenten ist für das Pflegepersonal auf solchen Stationen Routine.
Die Belegärzte im Haus der Beklagten zu 1) kümmern sich wechselweise um alle Patienten
auf der Station, auch um die von ihnen jeweils nicht selbst eingewiesenen Patienten. Dies
geschieht dergestalt, dass sie jährlich einen Plan vorauserstellen, der die im Wesentlichen
wöchentlichen Dienste für den jeweils eingeteilten Arzt vorsieht. Die Dienste werden nicht
gleichmäßig verteilt, die Beklagte zu 4) ist bspw. lediglich im Umfang von vier bis sechs
Wochen p.a. tätig. Jeder Arzt rechnet für seine Leistungen selbstständig gegenüber Patienten
und Krankenkassen ab. Jeder Arzt hat seine eigenen Rezepte und sein eigenes Konto.
Arztbriefe enthalten das Logo des Krankenhauses und den Namen des Jeweiligen Arztes.
Am 22.12.2011 wurde der Kläger durch den Beklagten zu 3) in das Haus der Beklagten zu 1)
wegen einer obstruktiven Bronchitis, drohender respiratorischer Insuffizienz sowie Verdachts
auf Bronchopneumonie und fieberhaften Infekt stationär eingewiesen. Der Kläger erhielt nach
Aufnahme eine lnfusionslösung, später kam eine entzündungshemmende antiobstruktive
Therapie hinzu. Weiter wurde eine intravenöse antibiotische Therapie unter dem Verdacht des
Vorliegens einer bakteriellen Infektion elngeleltet. Die intravenöse Infusion wurde am 26.12.
beendet, wegen einer deutlichen Tachydyspnoe wurden am selben Tag eine antientzündliche
Jnhalationstherapie sowie eine antiobstruktlve Therapie begonnen.
Am Tag des streitgegenständlichen Ereignisses am 26.12.2011 gegen 15.50 Uhr hatte die
Beklagte zu 4) Bereitschaftsdienst. Die Mutter des Klägers war bei ihm. Auf dem Nachttisch
des Klägers lagen Apfelspalten. Die Beklagte zu 2) erkundigte sich nicht, ob der Kläger
Seite 3/18
gegessen habe. Die Beklagte zu 2) verabreichte ein intravenöses Antibiotikum und spülte mit
Kochsalzlösung nach. In der Folge kam es zu dem streitgegenständlichen Ereignis, dessen
Hergang zwischen den Parteien streitig ist.
Im Sommer 2019 stellte sich der Zustand des Klägers ausweislich des Schriftsatzes vom
27.08.2019 (BI. 982 ff. d. A.) und dessen Anlagen so dar, dass er infolge eines hypox!schen
Hirnschadens u.a. an einer Epilepsie mit hochfrequenten tonlschwklonischen Anfällen litt,
deren Symptome u.a. mit einem !nitialschrel, Stöhnen, Bewusstseinsverlust, starren, meist
leicht gebeugten Annen und gestreckten Beinen, Apnoe, Speichelfluss und rhythmischen
Zuckungen oder stoßartiger Atmung einhergehen, Er litt an einer Intelligenzminderung ohne
aktive Sprache, einer Hüftluxation rechts und Problemen an der Wirbelsäule, deren Operation
zu diesem Zeitpunkt noch offen war. Beim Füttern litt er zum Teil unter Angsten. Er besuchte
die Landesschute für Blinde und Sehbehinderte in , wo er wöchentlich mehrmals
Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie erhielt. Er hatte einen GdB von 100 %, Pflegegrad 5.
Er litt an einer ausgeprägten Tetraspastik. Es bestand ein erhöhtes SUDEP-Risiko (sudden
unexpected death in epilepsy), da er im Schlaf mehrfach kurze und lautlose Anfälle er1’ttt.
Der Kläger behauptet:
Die Beklagte zu 2) sei als diensthabende Krankenschwester in seinem Zimmer erschienen. Er
habe Äpfel und Chips gegessen. Er sei beim Eintreffen der Beklagten zu 2) noch beim Essen
gewesen, habe Apfelstücke und Chips in der Hand gehalten und seine Wangentaschen wie
ein Hamster gefüllt gehabt. Seine Mutter habe darum gebeten, ihn erst fertig essen zu lassen.
Es sei erkennbar gewesen, dass sein Mund zum Zeitpunkt der Antibiotlkagabe noch gefüllt
gewesen sei. Er habe bei der Verabreichung des Antibiotikums und der Kochsalzlösung
ununterbrochen geschrien und sich dabei verschluckt. Er habe begonnen, heftig zu husten. Er
sei blau angelaufen. Als die Beklagte zu 2) bemerkt habe, was sie angerichtet habe, habe sie
ihn hochgenommen und mit nach oben gerichtetem Kopf nach oben und unten geschüttelt.
Seine Mutter habe ihm noch Nahrungsreste mit dem Finger aus dem Mund geholt. Es seien
keine adäquaten ErstewHilfewMaßnahmendurchgeführt worden. Die Beklagte zu 2) habe einen
Reanimationsruf abgesetzt und um 16.02 Uhr sei mit einer kardiopulmonalen Reanimation
begonnen worden, die insg. zwölf Minuten bis zur Wiederherstellung einer stabilen Herzw und
Kreislauffunktion mit Anstieg der Sauerstoffsättigung von initial 60 auf 78 gedauert habe, dann
auf 94 % mit nachfolgend problemloser Laryngoskopie und oraler Intubation (insoweit
unstreitig gestellt durch die Beklagte zu 2)).
Er habe in die verlegt werden sollen. Der Rettungswagen sei um 16.15 Uhr
angefordert worden und er sei um 17.15 Uhr übernommen worden, Der Transport mit dem
Rettungswagen sei um 18.30 Uhr, Ankunft in der um 19.15 Uhr gewesen. Er sei auf der
Kinderintensivstation aufgenommen worden, die arterielle Blutgasanalyse habe mit einer
ausgeprägten respiratorischen Azidose auf elne Ventilationsstörung bei massiver bronchialer
Obstruktion hingewiesen, die durch eine Anpassung der Beatmung gebessert worden sei. Ein
aufgetretener Pneumothorax habe drainiert werden können. Am 27.12.2011 habe eine
Bronchoskopie stattgefunden, bei der mehrere Fremdkörper (Apfelstücke und Chipsreste) aus
den Bronchien hätten entfernt werden können. Die weitere Behandlung in der HSK sei
komp!ikationslos verlaufen. Nach Beatmungsentwöhnung und Extubation am 29.12.2011
habe er regelmäßig dystone Krampfanfälle erlitten, die medikamentös behandelt worden
seien. Eine Kernspintomographie des Schädels vom 30.12.2011 habe einen hypoxischen
Hirnschaden ergeben. Es sei bei ihm zu Schluckstörungen gekommen, so dass eine
transkutane Magensonde zur weiteren Ernährung angelegt worden sei. Er sei am 06.02.2012
entlassen worden und habe im Anschluss eine neurologische Rehabilitationsbehandlung im
Kinderhospital erhalten.
Seite 4/18
Der Kläger behauptet, wegen der aspirierten Nahrungsmittel sei es zu einem Atem-und
Kreislaufstil/stand gekommen, die erforderlichen lebenserhaltenden Maßnahmen hätten zu
spät eingesetzt und seien insuffizient gewesen, weshalb er einen massiven Sauerstoffmangel
erlitten habe und Zeit seines Lebens ein Schwerstpflegefall bleiben werde mit spastischer
Tetraparese, Epilepsie und vielen anderen Einschränkungen. Er sei gelähmt und könne nicht
selbständig leben, er müsse rund um die Uhr betreut werden. Dies sei auf die Fehlbehandlung
zurück zu führen, die nach se”iner Auffassung als grober Behandlungsfehler zu qualifizieren
ist. Außerdem habe die Behandlungsseite zwingende Befunderhebungs-und
Befundsicherungspflichten verletzt, die Diagnostik sei gänzlich verkannt worden.
Die Beklagte zu 4) habe seinerzeit Bereitschaftsdienst gehabt, sei aber nicht erreichbar
gewesen, als er zu ersticken drohte. Er ist der Auffassung, die Beklagte zu 1) sowie die
Beklagten zu 3) und 4) als Belegärzte müssten für die Abläufe des Pflegepersonals und d’Ie
Einhaltung der Regeln medikamentöser Verabreichungen Sorge tragen, daran habe es
gemangelt Er behauptet, die Beklagte zu 2) habe keinen sog. Sprftzenschein, weshalb er der
Auffassung ist, sie sei zur Verabreichung von Infusionen und Injektionen nicht berechtigt
gewesen. Er behauptet, dies hätten die Beklagten zu 1), 3) und 4) verabsäumt zu prüfen. Die
Beklagte zu 2) habe es versäumt, das sog. abgewandelte Heimlich-Manöver bei Kindern
durchzuführen. Die Ausstattung auf der Station mit Beatmungsgeräten sei zudem nicht
ausreichend gewesen. Die Beklagte zu 1) müsse dafür einstehen, dass die Beklagte zu 2)
nicht hinreichend qualifiziert gewesen sei, kein Notfallplan eingehalten worden sei, das
Personal bei einem solchen Atemstillstand durch asplrierten Fremdkörper nicht ausgebildet
gewesen sei, keine Kontrolle des sog. Spritzenscheins erfolgt sei und eine mangelhafte
apparative Versorgurig für diesen Notfall insb. bzgl. künstlicher Beatmung vorhanden
gewesen sei. Das Krankenzimmer sei nicht adäquat für Notfälle ausgestattet gewesen, ein
Sauerstoffanschluss sei nur schwer zugänglich gewesen und es se! keine feste Unterlage für
eine Reanimation vorhanden gewesen.
Überdies sei nicht erkennbar, warum nicht zusammen mit Infusion und intravenöser
Kortisongabe auch das intravenöse Antibiotikum abgesetzt worden sei. Dieses hätte am
Morgen des 26.12.2011 auf oral, sprich Saft, umgestellt werden können.
Eine Verschlechterung seines Zustandsbildes sei nicht auszuschließen.
Der Kläger beantragt,
1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn aus der fehlerhaften
Behandlung vom Dezember 2011 ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen,
dessen Höhe in das pflichtgemäße Ermessen des Gerichtes gestellt wird, mindestens
jedoch 500.000,00 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit
Rechtshängigkeit,
2. festzuste!fen, dass d’Ie Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm sämtliche
künftigen unvorhersehbaren immateriellen sowie alle vergangenen und künftigen
materiellen Schäden, die ihm infolge der fehlerhaften Behandlung vom Dezember
2011 entstanden sind bzw. noch entstehen werden, zu ersetzen, soweit diese
Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen
sind bzw. übergehen werden.
Die Beklagten beantragen,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten zu 3) und 4) behaupten, sie hätten die erforderl’lche Ze’it von höchstens dreißig
Minuten bis zum Eintreffen im Haus der Beklagten zu 1) deutlich unterschritten. Die Beklagte
zu 1) habe eine ärztliche Versorgung im Haus vorgehalten, so dass sie selbst keine
Präsenzpfiicht auf der Station treffe, Die Beklagte zu 4) sei unmittelbar verständigt worden
und habe den Beklagten zu 3) verständigt, der sich aus anderen Gründen bereits auf dem
Weg befunden habe. Der Kläger sei durch das Team der Intensivstation betreut worden, als
der Beklagte zu 3), der unstreitig keinen Dienst gehabt habe, eingetroffen sei. Sie bestreiten
mit Nichtwissen, dass der Kläger Apfel und Chips gegessen habe und Ihm die Beklagte zu 2)
dennoch eine Injektion gegeben habe, weshalb er zu schreien begonnen und sich verschluckt
habe und dauerhafte gesundheitliche Beeinträchtigungen eingetreten seien. Ebenso
bestreiten sie mit Nichtwissen, dass der Kläger auch bei früheren Maßnahmen geschrien
habe und dies dem Pflegepersonal bekannt gewesen sein soll, dass die gesundheitlichen
Beeinträchtigungen im Haus der Beklagten zu 1) im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang
und nicht zeitlich später eingetreten und Folge der Aspiration sein sollen.
Die Beklagte zu 4) ist der Auffassung, sie treffe keine zurechenbare Verantwortung, da der
Fehler !m Rahmen der pflegerischen Tätigkeit vor Verabreichung der Infusion passiert sei (BI.
371 d. A.).
Die Beklagten zu 1) und 2) behaupten, die Beklagte zu 2) habe um 16.00 Uhr das
Krankenzimmer des Klägers betreten und ihn auf dem Bett sitzend mit einem Kartoffelchip in
jeder Hand vorgefunden. Dass er Apfelstücke gegessen habe oder solche in der Hand
gehalten habe, sei für sie nicht zu erkennen gewesen und bestreite sie. Seine Mutter habe
ihm mit den Worten „Endlich kann wieder Chips essen” die Chips aus der Hand
genommen, woraufhin sie ihm das Antibiotikum injiziert habe. Als die Spritze nahezu
vollständig entleert gewesen sel, habe der Kläger zu weinen und schreien begonnen, wobei
sie habe sehen können, dass er definitiv keine Speisereste im Mund gehabt habe. Auf ihre
Nachfrage, ob der Kläger immer so auf Injektionen reagiere, habe die Mutter dies bestätigt.
Erst als die lnjektlonssprltze leer gewesen sei, habe er zu husten begonnen, was dann
schwächer geworden sei, bis er bläulich-weiß bis zyanotisch geworden sei. Sie habe zunächst
versucht, ihn durch Anpusten und Klopfen auf den Rücken zu vitalisieren, was aber nicht
gelungen sei. Stattdessen habe seine Atmung ausgesetzt, woraufhin sie eine Notfallmeldung
abgesetzt und mit Reanimationsmaßnahmen begonnen habe, bis das Notfallteam eingetroffen
sei. Der Zeitraum zwischen Ende der Injektion und Aussetzen der Atmung des Klägers habe
etwa zwei Minuten betragen, der Zeitraum von diesem Punkt bis zu Beginn der
Rean·1mationsmaßnahmenweniger als eine weitere Minute. Um 16.04 Uhr sei das Notfa!lteam
eingetroffen. Wegen der ausgeprägten Bronchospastik sei zunächst keine ausreichende
Sauerstoffversorgung zu erreichen gewesen. was auch eine möglicherweise nicht erfolgreiche
Beatmung durch sle begründet haben dürfte. Nach Intubation und bei einer Absaugung seien
im Rachen Chlpsreste gefunden worden, was dagegenspreche, dass er noch Chips gegessen
habe, als sie die Injektion gesetzt habe.
Mit Schriftsatz vom 08.12.2015 hat die Beklagte zu 2) vorgetragen, sie sei, nachdem der
Kläger nicht mehr geatmet habe und weder Anpusten noch leichtes Klopfen auf den Rücken
geholfen hätten, mit ihm auf dem Arm auf den Flur gelaufen und habe die Zeugin Siebert zu
Hilfe gerufen. Sie habe sie aufgefordert, unverzüglich die Notrufnummer der Intensivstation
anzurufen und das Notfallteam zu bestellen, das nach kürzester Zeit eingetroffen sei,
nachdem sie mit den Notfallrettungsmaßnahmen begonnen habe. Sie habe den Kläger auf die
harte Mütterliege gelegt und durch Mund-zu-Mund-Beatmung beatmet und auf seinen oberen
Brustkorb gedrückt. Sie könne noch konkret erinnern, dass deutlich Speichel des Klägers in
ihren Mund gelaufen sei. Sie bestreitet die vom Kläger geschilderten Beeinträchtigungen mit
Nichtwissen. Die Tatsache, dass erst durch das Absaugen beim Kläger Reste von
Kartoffelchips gefunden worden seien und nicht etwa Apfelstücke, fasse nicht erkennen, dass
wegen einer vorherigen Nahrungsaufnahme durch den Kläger die Durchführung der Injektion
hätte unterbleiben müssen. Mit einer Lungenentzündung gingen häufig Schluckstörungen
einher, so dass davon ausgegangen werden müsse, dass der Kläger aufgrund dieser
Erkrankung einen Hustenanfall bekam. Zudem könnten die Chips scharf gewürzt gewesen
seien. Die Mutter habe, so die Beklagte zu 2), nur geäußert, könne endlich wieder Chips
essen, weshalb sie habe annehmen können, das die auf dem Nachttisch des Bettes der
Kindesmutter stehenden Apfelspalten zum Verzehr für die Mutter selbst bestimmt gewesen
seien, zumal der Kläger lediglich Chips in den Händen gehalten habe.
Die Beklagten zu 3) und 4) seien im Rahmen eines sog. gespaltenen
Krankenhausaufnahmevertrags tätig geworden, so dass nach Auffassung der Beklagten zu 1)
das Verhalten der Beklagten zu 2) nicht der Beklagten zu 1) zuzurechnen sei, sondern den
Beklagten zu 3) und 4). Die Beklagte zu 2) habe ihre Ausbildung erfolgreich abgeschlossen
und habe fachlich beanstandungsfrei gearbeitet. Das Vorliegen eines gespaltenen
Krankenhausaufnahmevertrags bestreitet der Kläger mit Nichtwissen.
Die Beklagten sind der Auffassung, dass von einem erheblichen Mitverschulden der Mutter
des Klägers auszugehen seL Es sei von einer weiteren Verschlechterung des Zustands des
Klägers während des Transports auszugehen, da der ph-Wert bei Übergabe gut und in der
HSK sehr schlecht gewesen sei (was unstreitig ist). A!le Beklagten bestreiten mit Nichtwissen,
dass es allein durch die intravenöse Antibiose zum verschlucken gekommen sei und die
gesundheitlichen Beeinträchtigungen ausschließlich auf dieses Verschlucken, eine
unzureichende Versorgung des Klägers im Haus der Beklagten zu 1) bzw. durch die Beklagte
zu 2) gekommen sein so!L
Die Beklagte zu 2) habe an Schulungen zu Reanimationsmaßnahmen bei Kindern
teilgenommen (BI. 618 d. A.). In dem Krankenzimmer sei ein Sauerstoff-und ein
Druckluftanschluss vorhanden gewesen, das stelle den üblichen Standard dar.
Die Kammer hat die Ennittlungsakte der Staatsanwaltschaft Limburg (Az. 3 Js 7678/12-52 Os)
beigezogen und Beweis erhoben gemäß Beschlüssen vom 20.09.2016 (BL 470 d. A.) und
vom 28.10.2020 (BL 1073 d. A.) durch die Einholung von schriftlichen Gutachten der
Sachverständigen Prof. Dr. med. 1 und Dr. med. sowie deren mündliche
Anhörung. Für das Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf die Gutachten vom 28.12.2017 {BI.
544 ff. d. A) und vom 21.01.2019 (BI. 806 ff. d. A.) sowie das Protokoll der mündlichen
Verhandlung vom 29.03.2021 (BI. 1231 ff. d. A.) verwiesen. Weiter hat sie Beweis erhoben
gemäß Beschluss vom 28.10.2020 (BI. 1073 d. A.) durch Vernehmung der Mutter des Klägers
sowie der Beklagten zu 2) als Parteien.
Die Klage ist dem (damaligen) Vertreter der Beklagten zu 1) und 2) am 09.07.2015 und dem
(damaligen) Vertreter der Beklagten zu 3) und 4) am 22.07.2015 zugestellt worden.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig.
Den Klageantrag zu 1) hat die Kammer so ausgelegt, dass Zinsen in Höhe von 5
Prozentpunkten über dem Basiszinssatz gemeint sind, wie es auch dem Gesetzeswortlaut
entspricht (vgl. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB).
Das Feststellungsinteresse für den Klageantrag zu 2) ergibt sich aus dem infolge der
streitgegenständlichen Behandlung nicht abgeschlossenen Lebenssachverhalt und der
Möglichkeit des Eintritts weiterer materieller und immaterieller Schäden (vgl. BGH, NJW~RR
2007, 601 Rn. 5). Dass ein Teil der Schäden bereits bezifferbar ist, macht die Leistungsklage
insoweit nicht vorrangig. Befindet sich der Lebenssachverhalt noch in der Entwicklung, steht
es dem Kläger frei, ob er für die bereits bezifferbaren Schäden Leistungsklage erheben
möchte, oder ob er zunächst Feststellungsklage erheben möchte (vgl. BGH, Urteil vom
30.03.1983 ~ VIII ZR 3/82, NJW 1984, 1552). Dies gilt auch für etwaige zukünftige und
gegenwärtig noch nicht absehbare immaterielle Schäden. Angesichts der Schwere des
Krankheitsbildes erscheint es auch hier denkbar, dass eine weitere Verschlimmerung
eintreten könnte. Diese Möglichkeit genügt für das nötige Feststellungsinteresse (vgl. BGH,
NJW-RR 2018, 1426 Rn. 6).
Die Klage ist jedoch nicht gegenüber allen Beklagten begründet.
L
Der Kläger hat gegenüber der Beklagten zu 2) gemäß §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB
Anspruch auf Zahlung eines Schmerzensgeldes in Höhe von 1.000.000,00 €.
1.
Der Kläger ist an seiner Gesundheit unstreitig schwer geschädigt; vom Ausmaß dieser
Schäden konnte sich die Kammer im Zuge der mündlichen Verhandlung am 29.03.2021, in
der der Kläger persönlich anwesend war, auch selbst ein eindrückliches Bild verschaffen.
2.
Diese schwere körperliche Schädigung ist zur Überzeugung der Kammer auf ein Verhalten
der Beklagten zu 2) zurückzuführen. Für die Überzeugung des Gerichts erforderl!ch und
ausreichend ist ein für das praktische Leben brauchbarer Grad an Gewissheit, der Zweifeln
Schweigen gebietet, ohne dass er sie notwendigerwelse gänzlich ausschließen müsste.
a)
Nach dem gesamten Ergebnis der mündlichen Verhandlung unter Berücksichtigung des
Ergebnisses der Beweisaufnahme ist die Kammer davon überzeugt, dass die Beklagte zu 2)
mit der Verabreichung der Antibiose nicht ausreichend lange gewartet hat, sondern diese zu
früh verabreicht hat. Sie ist zu dieser Überzeugung im Wesentlichen durch die Angaben der
Mutter des Klägers in ihrer Parteivernehmung gelangt, jedoch auch aufgrund der eigenen
Angaben der Beklagten zu 2). Die Mutter des Klägers hat in ihrer Vernehmung glaubhaft
erklärt, sie habe der Beklagten zu 2} mitgeteilt, dass der Kläger noch esse. Dies hat sie so
auch in der Strafanzeige (Bd. 1 der beigezogenen Ermittlungsakte, Az. 3 Js 7678/12-52 Os, BI.
1 d. A.), in ihrer Zeugenvernehmung Im Ermittlungsvelfahren (Bd. 1 der beigezogenen
Ermittlungsakte, dort BI. 29 f. d. A.) und in ihrer Vernehmung als Zeugin lm Strafverfahren,
dort in der Sitzung am 20.01.2016 (vgl. s. 11 des Sitzungsprotokolls, BI. 400 der
beigezogenen Ermittlungsakte, Bd. IJ)angegeben. Die Mutter des Klägers hat sich insgesamt
ruhig und besonnen zu den damaligen Ereignissen eingelassen. Ihre Vernehmung war von
Emotionen wie kurzem Weinen und Pausen zum Luftho!en geprägt, die in Anbetracht der
lntens!tät der damaligen Ereignisse und der Schwere der Folgen für ihr Kind, sie selbst und
ihre Familie problemlos nachvollziehbar sind. Trotz der sie belastenden Erinnerungen hat sie
die Ereignisse nicht in überzogener oder gar theatralischer Welse dargestellt. Sie hat gegen
Ende der Sitzung in Bezug auf die Einbeziehung der Beklagten zu 4) auch Unsicherheiten
eingestanden. In diesem bestimmten Punkt jedoch blieb sie nicht nur gegenüber ihren
Angaben im Ermlttlungsw und Strafverfahren, die viele Jahre zurückliegen, konstant, sondern
war sich auch sicher und erweckte nicht den Eindruck von Zweifeln oder Aggravation. Es
erscheint zudem sehr gut nachvollziehbar, dass sich die Ereignisse der Mutter das Klägers
nachhaltig ins Gedächtnis eingeprägt haben und sie ein solches ungewöhnliches Verhalten in
besonderer Erinnerung behalten hat.
Die Beklagte zu 2) wiederum hat in ihrem Bericht vom 31.12.2011 (Sonderband II Ass. St.w
Vincenz-KH, beigezogene Ermittlungsakte, dort BI. 3) zum betreffenden Ereignis erklärt “die
Mutter nahm Tyler die Chips aus der Hand und ich begann mit der Verabreichung der
Intravenösen Antibiose”. Dass sie nach Begrüßung durch die Mutter mit den Worten „Endlich
kann wieder Chips essen.u durch Nachfrage, Beobachtung oder Abwarten kontrolliert
hätte, ob der Kläger noch Essen im Mund hat, hat sie selbst nicht geschildert. In ihrer
SteJJungnahme im Ermittlungsverfahren vom 09.09.2013 (Bd. 1 der beigezogenen
Ermittlungsakte, BI. 108 f. d. A.) schtlderte die Beklagte zu 2) über ihren Verteidiger ebenfalls,
dass der Kläger noch Chips in den Händen gehalten habe, als sie das Zimmer betreten habe,
und die Mutter erklärt habe, er könne endlich wieder Chips essen. Sie habe sich dann nauf
den Jungen e·1nge!assen” und mit der Gabe der Antibiotika begonnen. Inwiefern sie dies
genau getan hätte, dass sie sich mit der Mutter einige Minuten unterhalten hätte, ist nicht
erkennbar.
In ihrer Parteivernehmung hat die Beklagte zu 2) erklärt, sie habe versucht, ein Gespräch mit
der Mutter aufzunehmen, und habe die Situation erfassen wollen. Ähnlich hat s’1e in ihrer
Einlassung Im Strafverfahren erklärt, sich der Mutter vorgestellt zu haben, ihr Bedauern
geäußert zu haben, dass der Kläger über Weihnachten im Krankenhaus sei, dass die Mutter
das Krankheitsbild erläutert habe und erklärt habe, der Kläger könne nun endlich wieder Chips
essen. Es seien Ober fünf Minuten bis zur Antibiotikagabe vergangen (S. 4 f. des Protokolls,
BI. 393 der beigezogenen Ennittlungsakte, Bd. II). Diese Angaben jedoch können zum einen
durch das zwischenzeitlich vorgelegte Gutachten des im Strafverfahren beauftragten
Sachverständigen Dr. geprägt sein, der ein nicht ausreichendes Zuwarten vor der
Antibiotikagabe im Hinblick auf ein mögliches Zuwarten moniert hatte, zum anderen ist aus
Sicht der Kammer nicht recht ersichtlich, Inwieweit ein Gespräch, das aus einer kurzen
Namensvorstellung, der Äußerung des Bedauerns zu einem Krankenhausaufenthalt Ober
Weihnachten, der Mitteilung zum Krankhe!tsbi!d und dass der Sohn wieder Chips essen
könne, länger als fünf Minuten dauern soll. Zwei oder drei Minuten stellen sich hier a!s deutlich
wahrscheinlicher dar.
b)
Die Kammer ist ferner davon überzeugt, dass die Beklagte zu 2) den Kläger, nachdem er im
Zuge der Antibiotikagabe angefangen hatte zu husten, blau anlief und schließlich das Atmen
einstellte, hochnahm und mit nach oben gerichtetem Kopf nach oben und unten schüttelte.
Hiervon ist die Kammer insbesondere infolge der Parteivernehmung der Mutter des Klägers
überzeugt. Zwar ist diese konkrete Angabe der Mutter des Klägers versehentlich entweder
nicht ins Protokoll aufgenommen worden oder aber auf dem Diktiergerät überspielt worden;
dass sie diese Angabe jedoch getätigt hat, ergibt sich aus der späteren Anhörung des
Sachverständigen Dr. med. , der bei der Parteivernehmung anwesend war und
hierauf konkret Bezug genommen hat, und zwar ohne dass zuvor seltens der Kammer auf
dieses spezielle Verhalten hingewiesen worden wäre (vgl. S. 11 des Protokolls, BI. 1241 d.
A.). Diese Angabe deckt sich nicht nur mit den Angaben in der Klageschrift, sondern auch mit
den Angaben der Mutter des Klägers in der Strafanz:elge (Bd. 1 der beigezogenen
Ermittlungsakte, Az. 3 Js 7678/12·52 Ds, BI. 1 d. A.), in ihrer Zeugenvernehmung im
Ermittlungsverfahren (Bd. 1 der beigezogenen Ermittlungsakte, dort BL 30 d. A.) und in ihrer
Vernehmung als Zeugin im Strafverfahren, dort in der Sitzung am 20.01.2016 (vgl. S. 11 des
Sitzungsprotokolls, BJ. 400 der beigezogenen Ermittlungsakte, Bd. II). Wie bereits ausgeführt,
hält die Kammer die Angaben der Mutter des Klägers in ihrer Parteivernehmung insgesamt für
glaubhaft.
Im erstinstanzlichen Strafverfahren hat die Beklagte zudem selbst erklärt, sie habe den Kläger
zwar nicht umgedreht und geschüttelt, jedoch habe sie ihn kurz geschüttelt, um ihn zu
stimulieren.
Die Beklagte zu 2) hat in ihrer Parteivernehmung in der mündlichen Verhandlung am
29.03.2021 ein solches Verhalten zwar bestritten. Die Kammer erachtet die Angaben in ihrer
Parteivernehmung jedoch insgesamt für wenig belastbar und glaubhaft. Zum einen hat die
Beklagte zu 2) während ihrer gesamten Parteivernehmung immer wieder zu ihrem
Prozessbevollmächtigten (hier Unterbevollmächtigten), der direkt neben ihr saß und der im
Strafverfahren ihr Verteidiger war, hinübergeblickt oder sich gar kurz mlt ihm besprochen, und
bei vielen, wenn nicht gar allen Fragen sehr deutlich den Kopf schüttelte oder nickte, so dass
hier eine erhebliche Unsicherheit dahingehend besteht, ob die Angaben der Beklagten zu 2)
tatsächlich auf ihren eigenen Erinnerungen beruhen.
Zum anderen hat sie sich im Wesentlichen auf ihre Stellungnahme im Ermittlungsverfahren
vom 09.09.2013 (Bd. 1 der beigezogenen Ermittlungsakte, BI. 108 f. d. A.) bezogen, die von
ihrem damaligen Verteidiger verfasst war und sich ihrerseits auf ihre Stellungnahme in der
Patientenakte vom 31.12.2011 (Sonderband I! Ass. 1, beigezogene
Ermittlungsakte, dort BI. 3) bezieht. Obwohl sich auch der Beklagten zu 2) dieses Ereignis
nachhaltig eingeprägt haben müsste, da es singulärer Art war, schwere Folgen für einen ihrer
Patienten hatte und sie hiervon als Beschuldigte unmittelbar getroffen wurde, konnte sie sich
angeblich nicht mehr oder kaum noch hieran erinnern. Es ist zwar grundsätzlich
nachvollziehbar, dass d’ie Erinnerung nach mehreren Jahren nachlässt, jedoch erscheint dies
vor dem Hintergrund der Schwere dieses Ereignisses, bei dem die Beklagte zu 2) unmittelbar
zugegen war, der Einzigartigkeit dieses Ereignisses und der daran anknüpfenden Verfahren
erstaunlich, dass sie sich im Wesentlichen auf ihre damaligen Erklärungen bezieht. Nach dem
Eindruck der Kammer geschah dies im Sinne einer Rechtsverteidigung ähnlich dem
Strafverfahren, in dem sich die Beklagte zu 2) aber nicht (mehr) befand. Auffällig ist es aus
Sicht der Kammer z:udem, dass die Beklagte zu 2) in ihrem Bericht vom 31.12.2011 die
angeblich von ihr getroffenen Notfallrettungsmaßnahmen mit keinem weiteren Wort
beschreibt, obwohl dies doch ein ersichtlich wichtiger Bestandteil des Ereignisses war, und
obwohl sie andere Punkte wie den Zeitpunkt des Anrufs bei der Beklagten zu 4) genau in
Erinnerung hatte. Befragt zu den durchgeführten Rettungsmaßnahmen wirkte die Beklagte zu
2) sichtlich verunsichert und zögerte mit ihren Antworten, die erneut im Wesentlichen auf eine
mehr oder weniger verbale Rücksprache mit ihrem Vertreter zu beruhen schienen.
c)
Eine Vernehmung der Mitarbeiter des Notfallrettungs-Teams, wie sie sowohl die Kläger-wie
auch die Beklagtenseite angeboten hat, kannte unterbleiben. Diese Zeugen waren zum
Zeitpunkt der Antibiotikagabe und des Schüttelns nicht Im Zimmer des Klägers und können
hierzu nichts bekunden. Anwesend waren unstreitig allein die Mutter des Klägers und die
Beklagte zu 2).
3.
Dieses Verhalten der Beklagten zu 2) war rechtswidrig und schuldhaft, nämlich fahrlässig
LS.d. § 276 Abs. 2 BGB, und ursächlich für die schweren körperlichen Schäden des Klägers.
a)
Fahrlässig handelt, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Bezogen auf
das hier streitgegenständliche Ereignis war entscheidend, wie eine durchschnittliche
Kinderkrankenschwester bei sorgfältiger Arbeit vorgegangen wäre (vgl. zum Sorgfaltsmaßstab
auch Schaub, in: beck-online.Grosskommentar, Stand 01.03.2021, § 276 Rn. 73). Die
Beklagte zu 2) hätte mit der Verabreichung der Antibiotika noch einige Minuten länger warten
müssen. Die unstreitig in den Händen des Klägers liegenden Chips beim Betreten des
Zimmers und die Apfelspalten, die jedenfalls auf dem Nachttisch lagen, gaben konkreten
Anlass zu der Vermutung, dass der Kläger kurz vor dem Betreten des Zimmers noch Nahrung
aufgenommen hatte. Bei einem Klnd seines Alters dauert die Verwertung solcher Nahrung
naturgemäß länger, denn es kann nicht kauen wie ein Erwachsener. Selbst wenn sich Chips
daher nach e·Iner Weile durch den Speichel auflösen, so dauert dies erfahrungsgemäß eben
doch eine gewisse Zeit. Dies gilt erst Recht für Apfelstücke, die sich durch Speichel nicht in
wenigen Minuten auflösen oder zumindest weich werden. Das Betreten des Zimmers durch
die Beklagte zu 2) könnte darüber hinaus den Kläger abgelenkt und den Kauvorgang
unterbrochen haben, eben zu dem ~Hamstern”, das die Mutter des Klägers beschrieben hat,
und das ebenfal!s ein typisches Verhalten für Kinder ist. Einer erfahrenen
Klnderkrankenschwester und Mutter wie der Beklagten zu 2) musste dies bekannt sein. Selbst
wenn der Kläger keine Apfelspalten in den Händen gehalten hätte, so hätten bereits die
Chipsreste Anlass zum Warten geben müssen, das Vorhandensein von Apfelspalten auf dem
Nachttisch ebenfalls. Die Beklagte zu 2) aber trägt nicht einmal vor gefragt zu haben, wann
denn der Kläger zum letzten Mal etwas gegessen habe. Sie muss aufgrund der Chipsreste in
seinen Händen demnach selbst angenommen haben, dass dies jedenfalls noch nicht lange
zurückliegen konnte.
Der Sachverständige Dr. hat ausgeführt (vgl. S. 24 f. des Gutachtens des
Sachverständigen Dr. , BI. 567 f. d. A., und S. B des ProtokoHs der mündlichen
Verhandlung vom 29.03.2021, BI. 1251 d. A.), dass es in der Praxis gängig sei, durch
Beobachtung des Kindes, ggf. Nachfragen und Abwarten sicherzustellen, dass sich keine
Speisereste mehr im Mundraum befinden. Eine Pflicht zur Kontrolle des Mundraums besteht
hingegen nicht und wäre gar kontraproduktiv, weil dies aufgrund der natürlichen
Abwehrreaktionen von Kindern gerade gegenüber fremden ein Verschlucken erst auslösen
könnte. Der Sachverständige Dr. hat zwar ausgeführt, er würde es als schicksalhaft
ansehen, wenn dann doch ein Speiserest im Mund verblelbe, da vollkommene Sicherheit hier
nicht zu erreichen ist, jedoch setzt diese Wertung eben voraus, dass die Beklagte zu 2) die
hier angemessenen Sicherheitsvorkehrungen getroffen hatte, was zur Überzeugung der
Kammer nicht der Fall ist Die Mitteilung der Mutter, der Kläger esse noch, bot bereits Anlass
zum längeren Warten, ggf. dazu, den Raum kurz zu verlassen. Kaubewegungen stellen
Seite 11/18
Kinder dieses Alters bei Ablenkung unter Umständen gänzlich ein. Es hätte Anlass bestanden
zu fragen, ob der Kläger ggf. noch Reste im Mund hat, und im Zweifel einen anderen
Patienten in der Behandlung vorzuziehen, zumal, wie die Beklagte zu 2) in ihren Einfassungen
im Rahmen des Strafverfahrens erklärt hat, an diesem Tag nicht besonders viel zu tun war
und keine Ei!e bestand. Die wenigen Minuten, dle die Beklagte zu 2) bis zur Antibfotlkagabe
beschäftigt war, selbst wenn man ihre ausführllcheren Einlassungen aus dem Strafverfahren
zugrunde legt, konnten angesichts der unmlttefbaren Mitteilung der Mutter, der Kläger esse
noch, keine hinreichende Gewissheit verschaffen.
Dass das Verabreichen der Antibiotika ursächlich für die Verlegung der Atemwege des
Klägers und damit für seinen gesundheitlichen Zustand war, daran bestehen für die Kammer
keine Zweifel. Selbst die Beklagten wollen dies ersichtlich nicht ernsthaft bestreiten, vielmehr
bezieht sich ihr Bestreiten zuförderst auf die schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen
als deren Folge und die Möglichkeit einer Vertiefung der Gesundheitsschäden während des
Transports. Letztere aber sind jedenfalls mittelbare Folge der Verlegung der Atemwege, die
daraus resultiert, dass der Kläger vor Schmerzen und/oder Angst infolge der Antibiotikagabe
zu schreien begann und ein oder mehrere Apfelstücke und ggf. auch Chipsreste aspirierte, die
die Atemwege verlegten und zur Unterbrechung der Atmung führten (so auch das Gutachten
des Sachverständigen Dr. , S. 11, BI. 554 d, A.). Die Verschlimmerung der
Gesundheitsschäden während des Transports, die auch der Sachverständige Dr. in
seinem Gutachten überzeugend darlegt, unterbricht den Zurechnungszusammenhang nicht,
sondern ist naturgemäßes Risiko einer so schweren Gesundheitsschädigung (vgl. auch BGH,
Urteil vom 22.05.2012, VI ZR 157/11). Hinzu kommt, dass eine Vertiefung der Schäden
jedenfalls nicht auf einem Fehlverhalten der beim Transport anwesenden Ärztin beruhte, denn
der Sachverständige Dr. hat ausgeführt, dass es ihr aufgrund der Tatsache, dass sich
der Brustkorb des Klägers weiter hob und senkte und wegen der schwierigen Verhältnisse
beim Transport nicht mögl’lch war, die Verschlechterung zu erkennen (vgl. S. 13 des
Gutachtens, Bl. 556 d. A.).
b)
Dass das Schütteln des Klägers nicht nur kein geeignetes Rettungsmitte! war, sondern sogar
kontraproduktiv, hat bereits der Sachverständige Dr. in seinem Gutachten (S. 19, BI.
562 d. A) überzeugend ausgeführt. Insoweit ist das Gutachten des Sachverständigen, der
Fachkenntnis und besondere Erfahrung auf dem hier einschlägigen Gebiet besitzt, nicht
angegriffen worden. Der Sachverständige Dr. , der als Facharzt für Kinder-und
Jugendmedizin mJt den Schwerpunkten Neuropädiatrie und Neonatologie, Zusatzbezeichnung
Notfallmedizin ebenfalls besondere Sachkenntnis besitzt, hat in seiner mündlichen Anhörung
bestätigt, dass das Schütteln den Fremdkörper im Hals~ und Rachenraum des Klägers tiefer
rutschen ließ und damit die Chancen für seine Entfernung schmäferte, was gleichzeitig den
Zeitraum, in dem der Körper des Klägers ohne Sauerstoffversorgung war, verlängerte. G!eich
ob das Schütteln damit nur zur Stimulation erfolgte oder in stärkerem Maße, war es damit
fahrlässig. Die Beklagte zu 2) als erfahrene Kinderkrankenschwester, die nach dem Vortrag
der Beklagten regelmäßige Unterweisungen zum Thema Notfallrettungsmaßnahmen bekam,
hätte dies wissen müssen.
4.
Diese rechtswidrigen und schuldhaften Rechtsgutsverletzungen des Klägers haben zur
Überzeugung der Kammer vor allem zu folgenden unmittelbaren und mittelbaren
Gesundheitsschäden beim Kläger geführt
Reanimationspflichtiger Atemstillstand, hypoxischer Hirnschaden, infantile Zerebralparese,
Epilepsie, Tetraspastik, Hüftluxation, Dysphagie (Schluckstörung), Intelligenzminderung ohne
aktive Sprache.
5,
Ein Mitverschulden der Mutter oder des Vaters des Klägers, das nach §§ 278, 254 Abs. 1
BGB zu berücksichtigen wäre, ist nicht ersichtlich. Zwar sind Chips und Apfelstücke für ein
Kind dieses Alters ungeeignete Nahrung und die Eltern des Klägers sind dem
Sorgfaltsmaßstab des § 1664 Abs. 1 BGB entsprechend von einer Haftung gegenüber ihrem
Sohn befreit, da sie jedenfalls diejenige Sorgfalt angewandt haben, die sie In eigenen
Angelegenheiten anzuwenden pflegen. Die Ernährung des Kindes dürfte maßgeblich von
Erfahrung und Bildungsstand der Eltern sowie ihrer Einstellung zum Thema gesunde
Ernährung abhängen; dass Kindern 1m Alter des Klägers auch ungesunde Nahrung gegeben
wird, um ihnen Freude zu machen, und dass hierbei dann auch einmal Nahrungsmittel sind,
die ein gewisses Gefahrenpotenzial aufweisen, ist an sich nicht ungewöhnlich. Die Kammer
schließt sich aber der Rechtsauffassung des BGH an (Urteil vom 01.03.1988, Az.. VI ZR
190/87, NJW 1988, 2667), wonach es zu einer Einschränkung der Haftung nach den
Grundsätzen des gestörten Gesamtschu!dnerausgleichs deshalb nicht kommt, da diese
Grundsätze für den Fall einer „Haftungsprivilegierung” nach § 1664 BGB nicht anwendbar
sind. In Fällen des § 1664 BGB besteht bereits kein Gesamtschuldverhältnis, denn aufgrund
der Anwendung des § 1664 Abs. 1 BGB kommt es nicht zu elner Haftung des Elternteils dem
Grunde nach,
6,
Der Höhe nach hält die Kammer unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der mündlichen
Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme einschließlich ihres persönlichen
Eindrucks vom Zustand des Klägers ein Schmerzensgeld von 1.000.000,00 € für
angemessen. Das Schmerzensgeld soll seiner Funktion nach den Kläger für das erlittene
körperliche und seelische Leid entschädigen. Zu berücksichtigen hierbei sind alle Umstände
des jeweiligen Einzelfalls, von der Art der Verletzungshandlung an sich, deren unmittelbaren
und mittelbaren körperlichen und seelischen Folgen, zu den Auswirkungen auf die sozialen
Beziehungen des Klägers. Auf der anderen Seite sind ebenso zu berücksichtigen das
Ausmaß des Verschuldens des Schädigers, seine wirtschaftlichen Verhältnisse,
Auswirkungen eines Strafverfahrens und sein Verhalten im Rahmen der Regunerung (insg.
PalandVGrüneberg, BGB, 79. Aufl, 2020, § 253 Rn. 15 ff.).
Insoweit hat die Kammer zugunsten der Beklagten zu 2) berücksichtigt, dass ihr allenfalls
lelchte Fahrlässigkeit zur Last gelegt werden kann. Der Schaden ist bei einem
Routinevorgang entstanden, der so auch vielen anderen Kinderkrankenschwestern und auch
Eltern hätte passieren können. Die Fahrlässigkeit der Beklagten zu 2) war nicht etwa ein
besonderes persönliches Fehlverhalten, sondern könnte sich, so ähnlich haben es die
Sachverständigen auch formuliert, in ganz ähnlicher Weise tägllch auf Kinderkrankenstationen
ereignen und wirkt sich in der ganz überwiegenden Zahl aller Fälle nicht aus. In aller Regel, so
würde es der Volksmund sagen, “geht’s gut”. Auch zahlreichen Eltern dürfte es nach den
eigenen Erfahrungen der Kammer bereits einmal passiert sei, dass sie ihr Kind beim Essen
versehentlich erschreckt haben, wodurch es sich verschluckt hat. Von einem groben
Fehlverhalten geht die Kammer infolge der Routinehaftigkeit des Vorgangs, und weil der
Kläger nicht etwa noch sichtlich kaute oder sich vor den Augen der Beklagten zu 2) Nahrung
in den Mund gesteckt hatte, nicht aus.
Das Schütteln des Klägers durch die Beklagte zu 2) ist als Überforderungsreaktion ebenso zu
bewerten und unprofessionell. Die Sachverständigen haben geschfldert, dass derlei
Vorkommnisse auf normalen Kinderkrankenstationen höchst selten sind und ein besonnenes
Verhalten von der insoweit zwar geschulten, aber konkret in puncto Rettungsmaßnahmen
gänzlich unerfahrenen Beklagten zu 2) nicht erwartet werden konnte. Angst und Panik sind in
d!eser für die Beklagte zu 2) überraschenden und außergewöhnlichen Situation nur als
menschlich zu werten,
Keinesfalls ist hier davon auszugehen, die Beklagte zu 2) habe eine Schädigung des Klägers
bewusst in Kauf genommen oder sie sei ihr gleichgültig gewesen. Die Kammer geht vielmehr
davon aus, dass die Beklagte zu 2) die Folgen ihres Handelns bedauert und sie sie als Mutter
und als Kinderkrankenschwester sehr getroffen haben. Das Strafverfahren und der, auch
mediale, Aufruhr um dieses und das hiesige Verfahren dürften sie sehr belastet haben. Die
Schuld von sich zu weisen, ist unter diesen Umständen ein natürlicher Schutzreflex, nicht
edel, aber nachvollziehbar.
Die Beklage zu 2} wird persönlich nicht für die Schäden einzustehen haben, vielmehr ist
davon auszugehen, dass sie über eine Haftpflichtversicherung abgesichert ist. Besondere
wirtschaftliche Konsequenzen sind daher nicht zu berücksichtigen.
Auf der anderen Seite sind die Folgen für den Kläger gravierend. Der Kläger war zum
Zeitpunkt des Schadensereignisses nicht einmal zwei Jahre alt. Ein auch nur näherungsweise
normales Leben wird er nie führen können. Er kann nicht sprechen, nicht laufen. Eine normale
Kindheit ist ihm weitgehend verwehrt geblieben. Er hat sie und wird auch seine JugendM und
Erwachsenenzeit zu großen Teilen in Krankenhäusern, RehaMElnrichtungen und mit sonstigen
ärztlichen oder physiotherapeutischen Behandlungen und damH auch mit Schmerzen
verbringen. Spielen mit seinen Eltern, Geschwistern oder anderen Kindern, der Besuch eines
Kindergartens oder einer normalen Schule, der Aufbau von regulären Sozialbeziehungen zu
Gleichaltrigen sind ihm verwehrt. Er kann sich kaum bewegen, nicht selbst essen oder sich
waschen und pflegen. Rund um die Uhr ist er auf fremde Hilfe angewiesen. Seine Gefühle
und Gedanken kann er nur eingeschränkt äußern. Selbst Essen und Schlafen sind für ihn
infolge von Schluckbeschwerden und Epilepsie mit Angstzuständen verbunden. Zwar kann er
an der Gesellschaft teilhaben, indem er eine Förderschule besucht und über seine Famille
gepflegt und versorgt wird, sein zustand ist damit bspw. von dem eines Wachkomapatienten
noch weit entfernt; doch lässt slch nicht sagen, was er aus den ihm gegebenen Möglichkeiten
im laufe seines Lebens ohne das Schadensereignis gemacht hätte. Die besondere Tragik
liegt darin, dass einem noch so jungen Menschen jegliche Perspektive auf ein normales
Leben genommen wurde. Dass sich an diesem Zustand ehvas Wesentliches ändern wird, hält
die Kammer infolge der vorgelegten Arztberichte und ihres persönlichen Eindrucks für
ausgeschlossen
Das Landgericht Gießen hat in dem Fal! elnes 1Tjährigen mit schwersten Gehirnschädigungen
im Jahr 2019 ein Schmerzensgeld in Höhe von 800.000 € zugesprochen (vgl. Urteil vom
06.11.2019 -5 0 376/18). Im dortigen Fa!J jedoch hatte der Geschädigte jedoch zumindest die
Chance auf eine normale Kindheit und Jugend.
Der Zinsanspruch beruht auf§§ 291, 288 Abs. 1 BGB.
II.
Der Feststellungsantrag ist aus den vorgenannten Gründen gegenüber der Beklagten zu 2)
ebenfalls begründet. Auf eine besondere Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts kommt es
nicht an (BGH, NJW 2018, 1242 Rn. 49).
111.
Die Beklagte zu 1) haftet gemäß §§ 630a, 280 Abs. 1, 278, 253 Abs. 2 BGB gegenüber dem
Kläger auf Schmerzensgeld. Zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 1) bestand ein
Vertrag, der die Beklagte zu 1) zur Erbringung medizinischer und pflegerischer Leistungen
verpflichtete, soweit diese nicht in den Verantwortungsbereich der Belegärzte, insb. der
Beklagten zu 3) und 4) fielen,
Vorllegend handelt es sich um einen sog. gespaltenen Krankenhausaufnahmevertrag. Der
Beklagte zu 3) hat den Kläger im Rahmen seines Vertretungsdienstes als Kinderarzt in das
Haus der Beklagten zu 1) eingewiesen. Im Zuge dieser Behandlung des Klägers ist ein
Behandlungsvertrag zwischen dem Kläger und dem Beklagten zu 3) zustande gekommen.
Diesen Behandlungsvertrag haben die Parteien sodann im Zuge der Belegarzttätigkeit des
Beklagten zu 3), der den Kläger auf der Station im Haus der Beklagten zu 1)
weiterbehandelte, fortgesetzt (vgl. zur Thematik auch Greiner, Medizinrecht, 3. Aufl. 2018,
§§ 823-839 Rn. 312; BGH v. 08.11.2005, VI ZR 319/04). Zugleich Ist durch die Aufnahme im
Haus der Beklagten zu 1} ein Behandlungsvertrag mit der Beklagten zu 1) zustande
gekommen (vgl. auch den Behandlungsvertrag Anlage BIV 1, BI. 244 d. A.). Der
Behand!ungsvertrag mit der Beklagten zu 1) (81. 244 d. A.) weist ausdrOck!ich darauf hin, dass
die Beklagte zu 1) nicht für Leistungen der Belegärzte haftet. Zwar ist die Beklagte zu 2) bei
der Beklagten zu 1) angestellt, die Beklagte zu 1) haftet für deren Fehlverhalten jedoch nur,
bis der Beklagte zu 3) oder die Beklagte zu 4) bestimmte Weisungen erteilen und sich dabei
der Beklagten zu 2) als Erfül!ungsgehilfin bedienen, so dass sie ausdrücklich ‘1n deren
Leistungsbereich als Belegärzte tätig wird, so auch § 13 Absatz 4 der Belegarztverträge (vgl.
auch Greiner, Medizlnrecht, 3. Aufl. 2018, §§ 823-839 Rn. 318; Heinemeyer, in: MüKo BGB,
8. Aufl. 2019, § 420 Rn. 11). Das Verabreichen einer ärztlich (nämlich seitens der Beklagten
zu 3) bzw. 4)) angeordneten Antibiose stellt eine Tätigkeit im Haftungsbereich des
Belegarztes dar und ist deshalb nicht der Beklagten zu 1) zuzurechnen.
Anders verhält es sich bzgl. des der Beklagten zu 2) anzulastenden Schüttelns des Klägers.
Dieses Verhalten erfolgte bereits als {verfehlte) Hilfemaßnahme und damit i.S. einer
Rettungsmaßnahme. Zwar wären die Rettungsmaßnahmen ohne die vorangegangene
Antibiose nach derzeitigem Stand nicht erforderlich geworden, erscheint eine Aufspaltung des
Verhaltens der Beklagten zu 2) in solche Handlungen, die der Beklagten zu 1) zuzurechnen
sind, und solche, die den Belegärzten zuzurechnen sind, allein vor dem Hintergrund bereits
geboten, als die Belegärzte vertraglich nicht zur AusbHdung des bei der Beklagten zu 1)
angestellten Personals verpflichtet sind. Vertraglich ist die Beklagte zu 1) zur Vorhaltung der
entsprechenden Gerätschaften und des Personals für Notfalleinsätze verpflichtet. Es ist die
Beklagte zu 1), die ihr Pflegepersonal und auch die Beklagte zu 2) regelmäßig zum Thema
Notfallrettungsmaßnahmen schult. Bei Notfaltrettungsmaßnahmen handelte die Beklagte zu 2)
deshalb als Pflegepersonal im Rahmen sog. allgemeiner Krankenhausleistungen LS.d. § 2
Abs. 2 KHEntgG, so dass etwaige Fehler der Beklagten zu 1) zuzurechnen sind.
Für die Haftung der Beklagten zu 1) wird im Übrigen auf die Ausführungen unter Ziffer 1.
verwiesen.
Seite 15/18
Anhaltspunkte für eine darüberhinausgehende Haftung der Beklagten zu 1 ),, etwa wegen einer
unzureichenden Ausstattung des Krankenzimmers oder einer unzureichenden Schulung der
Beklagten zu 2), haben sich nicht ergeben. Die Sachverständigen haben die Ausstattung des
Krankenzimmers als ausreichend und üblich beurteilt, zu den Schulungen der Beklagten zu 2)
ist substantiiert vorgetragen worden, das diesbezügliche Bestreiten des Klägers ist
unzureichend und damit unbeachtlich (vgf. auch Ziffer V. des Hinweisbeschlusses vom
28.10.2020, BI. 1073 d. A.).
Der Feststellungsantrag zu 2} ist aus den vorgenannten Gründen gegenüber der Beklagten zu
1) ebenfalls begründet.
IV.
Die Beklagte zu 4) haftet gemäߧ§ 630a, 280 Abs. 1,278,253 Abs. 2 BGB gegenüber dem
Kläger auf Schmerzensgeld.
Zwischen dem Kläger und der Beklagten zu 4) ist ein eigenes vertragliches Schuldverhältnis
in Form eines Behandlungsvertrags zustande gekommen, als sie am Morgen des
streitgegenständlichen Tags den Dienst als Belegärztin auf der Station im Haus der Beklagten
zu 1) übernommen hatte. Zwar ist in der Fortführung der Behandlung durch den einweisenden
Belegarzt, hier den Beklagten zu 3) auf der Station der Beklagten zu 1) zunächst einmal die
Fortführung des ursprünglichen Behandlungsvertrags zwischen dem Kläger und dem
Beklagten zu 3) zu sehen, jedoch hat die Beklagte zu 4) nach dem unstreitigen Vorbringen
des Beklagten zu 3) und der Mutter des Klägers In der mündlichen Verhandlung vom
29.03.2021 (vgl. S. 12 des Protokolls, BI. 1255 d. A.) den Dienst nach einer persönlichen oder
zumindest telefonischen Übergabe vom Beklagten zu 3) übernommen und sich dem Kläger
und seiner Mutter als nun diensthabende Ärztin vorgestel!t. Mit dieser Übernahme des
Dienstvertrags ist zwischen ihr und dem Kläger ein eigener Behandlungsvertrag geschlossen
worden. Hierfür -und gegen einen Behandlungsvertrag zwischen dem Kläger und den
Belegärzten als GbR, wie er auch denkbar wäre -spricht die eigene Abrechnung der
jeweiligen Belegärzte auf der Station im Haus der Beklagten zu 1) gegenüber den Patienten
für die von ihnen jeweils erbrachten Leistungen, wozu auch eigene Briefköpfe veiwendet
werden.
Der so geschlossene Vertrag verpflichtete die Beklagte zwar nicht, wie vom Kläger vertreten,
zur unmittelbaren Verfügbarkeit auf der Station im Sinne einer persönlichen Anwesenheit rund
um die Uhr. Für Notfälle gab es im Haus der Beklagten zu 1) Einrichtungen und Personal und
dies entspricht auch der vertraglich zwischen der Beklagten zu 1) und den Belegärzten
getroffenen Risikoverteilung, wie sie sich aus den vorgelegten Be!egarztverträgen ergibt.
Jedoch muss sich die Beklagte zu 4} im Rahmen ihrer vertraglichen Leistungspflichten ein
Verschulden der Beklagten zu 2) als ihrer Erfü/lungsgehilfin zurechnen lassen. Es kommt
h’ierbei nicht darauf an, dass die ursprüngliche Anweisung betreffend die Antibiose vom
Beklagten zu 3) stammt, sondern darauf, dass die Beklagte zu 4) diese Anweisung mit
Dienstantritt am Morgen des Tages übernahm und aufrecht hielt, so dass es zur
Verabreichung durch die Beklagte zu 2) am Nachmittag kam. Die Verabreichung der Antibiose
wiederum ist klassischer Teil der ärztlichen Behandlung, denn sie beruht auf ärztlicher
Anordnung und dient der unmittelbaren Heilung.
Im Rahmen der Bemessung des Schmerzensgeldes kann nicht, auch nicht in analoger
Anwendung des § 425 Abs. 2 BGB, die möglicherweise fehlende Haftpflichtversicherung der
Beklagten zu 4) berücksichtigt werden. Von dieser Tatsache hat die Kammer aufgrund des bei
ihr vormals anhängigen Rechtsstreits der Beklagten zu 4) mit ihrer Haftpflichtversicherung
Seite 16/18
Kenntnis. Allerdings ist über diese Frage nach dem Kenntnisstand der Kammer zum einen
nicht rechtskräftig entschieden, zum anderen handelt es sich um eine Pflichtversicherung, fOr
deren ordnungsgemäßen Abschluss die Beklagte zu 4) selbst Sorge tragen muss. Kommt es
hierbei zu Fehlern, so liegen diese im Risikobereich der Beklagten zu 4) und dürfen nicht dem
Geschädigten zur Last fallen.
Der Feststellungsantrag zu 2) ist aus den vorgenannten Gründen gegenüber der Beklagten zu
4) ebenfalls begründet.
V.
Gegenüber dem Beklagten zu 3) hingegen bestehen unter keinem denkbaren rechtlichen
Gesichtspunkt Ansprüche des Klägers, weder auf Schadensersatz (Antrag zu 1 )), noch auf die
Feststellung einer Einstandspflicht für weitere Schäden {Antrag zu 2)),
Vertragliche Ansprüche nach §§ 630a, 280 Abs. 1, 278 BGB scheiden aus. Zwar bestand
grundsätzlich ein Behandlungsvertrag zwischen dem Kläger und dem Beklagten zu 3), zu dem
streitgegenständlichen Ereignis ist es jedoch außerhalb dessen zeitlichen
Anwendungsbereichs, nämlich wie erörtert während des Dienstes der Beklagten zu 4)
gekommen. Weder hat er deshalb etwaige Fehler bei der Verabreichung der Antibiose, noch
bei der Verordnung derselben zu verantworten, noch hatte er die Pflicht zur Anwesenheit auf
der Station.
Ansprüche wegen einer Beteiligung der Beklagten zu 3} und 4) als Gesellschafter einer GbR
von Belegärzten, die zu einer dem Beklagten zu 3) zurechenbaren Haftung führen würden,
bestehen nicht. Nach dem unstreitig gebliebenen Vortrag der Beklagten zu 3) und 4) ist nicht
von der Begründung eines vertraglichen Verhältnisses des Klägers zu allen Belegärzten auf
der Station durch die Einweisung des Beklagten zu 3) auszugehen. Denn ein zielgerichtetes,
gemeinsames Handeln der Belegärzte als GbR nach außen ist nicht erkennbar, Sie haben
alle separat abgerechnet, es gab weder einen gemeinsamen Briefkopf, noch ein
gemeinsames Konto oder sonstige Absprachen. Über den jährlichen Dienstplan und die
gemeinsame Nutzung der „Ressourcen” im Krankenhaus hinaus verband die Belegärzte
nichts miteinander.
Ansprüche nach § 823 Abs. 1 BGB scheitern an einer dem Beklagten zu 3) zurechenbaren
Fehlbehandlung.
VI.
Die Kostenentscheidung beruht auf§§ 91, 92, 100 Abs. 4 S. 1 ZPO i. V. m. den Grundsätzen
der Baumbach’schen Kostenformel, die Entscheidung Ober die vorläufige Vollstreckbarkeit auf
§ 709 Satz 1 und 2 ZPO.
Vorsitzender Richter am Richter am Landgericht Richterin am Landgericht
Landgericht ist an der
Unterschriftsleistung
gehindert
Beglaubigt
Limburg a. d. Lahn, 28.06.2021