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Wirtschaftswoche | Ein Rückschlag zu viel | 10.02.2023

Ein Rückschlag zu viel

Der Personalmangel in den Kliniken beschert Medizinrechtsanwälten immer mehr Streitfälle, in denen Pflegefehler üble Folgen haben. Doch die Beweislage ist oft kompliziert.

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Kein Klingeln half dem Frischoperierten. Ganze 27 Minuten lang wartete er auf die Nachtschwester, um mit ihrer Hilfe zur Toilette zu kommen – vergeblich. Denn der Arzt, der seine Hüfte operiert hatte, hatte den Mann angewiesen, nicht alleine aufzustehen. Er solle klingeln. Doch als niemand kam und seine Verzweiflung wuchs, stand der 69-Jährige in seiner Not schließlich doch auf, stürzte im Bad, brach sich das Kreuzbein und musste erneut operiert werden. Sein Allgemeinzustand verschlechterte sich rapide, auf die Beine kam er nicht mehr. „Für ihn war das ein Hammerschlag zu viel, vier Wochen später verstarb er“, erzählt Medizinrechtler Lutz Böttger von der Kanzlei Haack Böttger. Er vertritt die Witwe und fordert von der Klinik rund 40.000 Euro Schmerzensgeld plus den Beerdigungskosten. Ohne die zweite Operation wäre der Mann noch am Leben, ist sich der Anwalt sicher.

Selbst wenn die Folgen nicht so dramatisch sein mögen. Fehlende Krankenschwestern und Pfleger in Kliniken, aber auch in Heimen werden zum immer größeren Problem, dessen wahres Ausmaß unbekannt sei, sagt Böttger. Die Krankenkassen erfassen Pflegefehlerfälle nicht gesondert, und so kommen auch keine Zahlen an die Öffentlichkeit. Derzeit fehlen in Deutschland laut dem Institut der Deutschen Wirtschaft 200.000 Pflegekräfte, die Zahl dürfte weiter steigen. Insbesondere unter dem Druck von Corona haben etliche Pfleger ihre Branche verlassen. Zu viele Überstunden, Schichtarbeit, die nicht zum Familienleben passt, das sind nur einige der Gründe.

Fakt ist: Immer weniger Pfleger haben immer weniger Zeit für jeden einzelnen Patienten. Schlimmer noch, wer ständig unter Zeitdruck arbeitet, macht auch mehr Fehler. Und so häufen sich auch die Streitigkeiten. „Prozesse wegen Pflegefehlern werden angesichts der steigenden Lebenserwartung zunehmen“, sagt Cornelius Thora, Medizinrechtler bei der Kanzlei BLD. Die häufigsten Pflegefehler seien Dekubitus-Fälle durch zu seltenes Wenden, Stürze und Hygienefehler, berichtet Anke Warlich, Spezialistin für Arzthaftung beim Prozessfinanzierer Foris. Böttger berichtet von einer Gebärenden, die in nur 48 Stunden offene Wunden davontrug. Drei Monate dauerte die Heilung. Die Versicherung kostete der Lagerungsfehler 30.000 Euro Schmerzensgeld.

Siebenstellige Schadensersatzforderungen

„Pflegefehler können sehr große Schadensersatzforderungen auslösen“, berichtet der Frankfurter Anwalt Thora. Er vertritt Kliniken sowie Heime und berichtet von einem Patienten, dessen Krankenkasse einen Heimbetreiber auf 1,2 Millionen Euro Schadensersatz für aufgelaufene Behandlungskosten verklagt. Der Auslöser: ein Salatblatt. Der Patient, der zur Kurzzeitpflege für einige Tage in einem Seniorenheim war, litt unter Schluckstörungen. Er musste gefüttert werden und hätte nur püriertes Essen bekommen dürfen. Als er sich erbrach und akute Atemnot bekam, brachte ihn der Notarzt ins Krankenhaus, und man fand als Ursache ein Salatblatt in der Lunge. Wie das Blatt in die Lunge gekommen war, ist unklar und beschäftigt nun Sachverständige. Denn Salat stand an dem Tag nicht auf dem Speiseplan, erzählt Thora.

Oft genug erkennen die Betroffenen oder ihre Angehörigen nicht, dass Pflegefehler die Ursache für Gesundheitsschäden waren. Und erst recht nicht, dass diese durch mangelhafte Personalausstattung ausgelöst worden sein könnten. Denn „das Ausmaß des Personalnotstands und den Zusammenhang mit Pflegefehlern in der Folge erkennen Betroffene bisher noch selten“, beobachtet Thora. Kein Klinikbetreiber werde ohne Druck zugeben, wenn nur eine einzige Nachtschwester eine ganze Station mit 60 Patienten betreuen muss, ergänzt Böttger. „Unterbesetzung als Ursache von Schäden ist in den juristischen Auseinandersetzungen bisher nie das Thema, denn da geht es immer nur um die Frage, ob ein Fehler passiert ist und nicht die Gründe dafür“, so Böttger.

Im dramatischen Fall des frisch operierten Hüftpatienten wird es nun zumindest indirekt eine Rolle spielen. Ein Sachverständiger wird beurteilen müssen, dass 27 Minuten Wartezeit auf die Nachtschwester zu viel waren. Für die Angehörigen ist es ein seltener Vorteil, dass sie diese Wartezeit überhaupt so exakt benennen können. Es gab einen Zimmernachbarn, der alles mitbekommen hatte und auch eine Zeugenaussage machte.